Steffen Diemer
Kirsten Keller
Steffen Diemer
„Womöglich könnte man von Aura sprechen“
– Hans-Michael Koetzle
Wer im Oktober seine Chemie ansetzt, um im Januar Tulpen zu fotografieren, scheint aus der Zeit gefallen. In jedem Fall hat er ein besonderes Verhältnis zu dem, was er tut. Zu seinem Medium. Zu Tulpen. Genaugenommen zu beidem. Steffen Diemer, keine Frage, liebt die Fotografie. Sie ist und bleibt sein Ausdrucksmittel. Und er liebt Tulpen. Irgendwie ist die Tulpe so etwas wie das Leitmotiv seiner künstlerischen Arbeit, zu dem sich als weitere Objekte gesellen. Es ist in der Summe eine kleine Wunderkammer, die da bildhaft zusammenfindet, eine Gesellschaft von Gegenständen, stumm, reglos, unaufgeregt vor jeweils neutralem Hintergrund erfasst und so dem staunenden Blick eines Publikums ausgesetzt, das eine Bilderwelt der anderen Art zu sehen gewohnt ist.
Thematisch bewegt sich Steffen Diemer ziemlich konsequent auf dem Gebiet des Stilllebens. Steffen Diemer steht bildkünstlerisch in einer langen Tradition, reiht sich ein in eine stolze Ikonografie, die mit den Niederländern im 17. Jahrhundert so etwas wie ihren Höhepunkt erreichte. Tatsächlich haben etwa die monochromen Arrangements eines Willem oder Pieter Claesz den Fotografen Steffen Diemer inspiriert, auch wenn er dem mitunter reich gedeckten Tisch der Maler aus der Zeit nach 1600 eine entschiedene Reduktion, mitunter Leere, in jedem Fall Bescheidenheit entgegensetzt. Diemers Blick ist konzentrierter, fokussiert auf das Objekt als, gewissermaßen, Individuum. Es geht um Wahrnehmung, ein tiefes Sehen, ein Innehalten, ein Studieren, also um das, was Roland Barthes tatsächlich als „Studium“ bezeichnet hat.
Lesen lässt sich die Geschichte der Fotografie als eng getaktete Abfolge technischer Fortschritte, wobei „Fortschritt“ in der Regel heißt: immer bequemer, immer schneller – wachsendes Tempo als zivilisatorisches Konzept. Musste Nicephore Niépce 1827 noch geschätzt acht Stunden belichten, um ein Stück Architektur auf Platte zu bannen, so ist die Herstellung von Bildern im digitalen Zeitalter eine Sache von Sekunden. Das Senden, das Verschicken, das Hochladen in die sozialen Medien gibt den Kick. Das Bild als Bild gerät zur Nebensache, so schnell gelöscht wie aufgenommen. Der Künstler Steffen Diemer geht einen entschieden anderen Weg.
Über nicht ganz ein Jahrhundert hieß Fotografieren, eine handelsübliche Kleinbildkamera mit einem Streifen 35-mm-Film zu bestücken, Blende und Zeit zu definieren, scharf zu stellen, abzudrücken. Steffen Diemer tritt mehr als einen Schritt zurück, besinnt sich einer Vorgehensweise, die seit nicht weniger als hundertfünfzig Jahren mehr oder weniger ausgestorben ist. Der Fotograf greift zurück auf eine Technik, von der es heißt, sie sei unter den Schwarz-Weiß-Verfahren das mit Abstand komplizierteste gewesen – eine Art Molekularküche des Mediums. Dennoch und bis zur Einführung der Trockenplatte um 1880 war das „Nasse Kollodiumverfahren“ so etwas wie das Nonplusultra gewerblicher Fotografie. Als Negativ-Positiv-Prozess erlaubte es, im Gegensatz zur Daguerreotypie theoretisch unendlich viele Abzüge. Wer mit dem Nassen Kollodiumverfahren arbeitete, auch unterwegs, in der Landschaft, auf Reisen oder im Hochgebirge wie die Frères Bisson, musste nicht weniger als eine transportable Dunkelkammer mit sich führen, um vor Ort die Platten frisch zu präparieren. Nass hieß buchstäblich nass – auch in der Wüste oder bei Temperaturen unter null. Warum greift jemand im Zeitalter digitaler Kameras, die dem Fotografen das Denken weitgehend abgenommen haben, auf ein nachgerade archaisches Prinzip zurück? Aber womöglich liegt in der Frage schon die Antwort. Wer, wie Steffen Diemer, mit der großen Kamera und mit der nassen Platte arbeitet, will die Kontrolle. Will den technologischen Gegenwind spüren, um das Abenteuer Fotografie wieder als solches zu erleben. Will Alchimist und Ästhet, Regisseur und Vordenker sein und bleiben – wirklicher Autor seiner Bilder. Es ist in der Tat ein behutsames, ein wohlkalkuliertes Arbeiten, das sich Diemer da verordnet hat. Eines, dass die spätestens seit den Surrealisten kultivierte Idee vom Zufall in der Fotografie hinter sich lässt und stattdessen auf Entschleunigung, auf Kontrolle, auf peinlich genaues Vorgehen setzt – Schritt für Schritt. Könnte es sein, dass die Energie, die Steffen Diemer in seine Bilder investiert, zurückstrahlt im Sinne einer schwer zu beschreibenden Magie? Womöglich könnte man von „Aura“ sprechen.
Steffen Diemer, 1966 in Grünstadt in der Pfalz geboren, ist kein Träumer. Er ist im Gegenteil ein hellwacher, politisch denkender, gut informierter Kopf, der die Welt gesehen und mit der Kamera erkundet hat. Über rund zwei Jahrzehnte war er als Bildjournalist tätig. Von Steffen Diemer könnte man sagen, er sei vielbeschäftigt gewesen. Und er wurde gedruckt. Große Wochenblätter wie Spiegel oder Stern, Tageszeitungen wie die Frankfurter Allgemeine oder internationale Magazine wie National Geographic brachten seine Einzelbilder oder Reportagen. 2011 verabschiedete er sich von der journalistischen Fotografie. Was nicht bedeutete, dass Steffen Diemer das Fotografieren aufgegeben hätte.
Das Special einer zufällig an einem Kiosk in Heidelberg entdeckten Fotozeitschrift wies den Weg. Was Steffen Diemers Interesse geweckt hatte und ihn in der Folge zunehmend faszinierte, war die Beschreibung eines historischen Verfahrens, die sich las wie ein ziemlich kompliziertes Experiment in anorganischer Chemie. Die Rede ist vom 1851 durch den Briten Frederick Scott Archer erfundenen „Nassplatten-“ oder „Nasskollodiumverfahren“, dessen Einführung etwa der Fotohistoriker Helmut Gernsheim als „eine neue Ära in der Fotografie“ bezeichnet hat. Diemer besorgte sich weitere Literatur, kaufte die notwendigen Chemikalien zusammen und begann seine Versuche. Drei Jahre, sagt er, habe er gebraucht, eine sechsstellige Summe investiert, bis sich erste Erfolge zeigten. Das Problem gleich zu Beginn war die Unempfindlichkeit der Schicht gegenüber Rot, Grün und Gelb. An Pflanzen, an Tulpen war entsprechend nicht zu denken. Um 1860 hätte er jeden Kollegen um Rat fragen können. Im Zeitalter entmaterialisierter Bilder half auch das Internet nicht weiter.
Was folgte, waren rund drei Jahre in der Dunkelkammer. Drei Jahre des Scheiterns und der sich addierenden langsamen Erfolge. Am Ende war Steffen Diemer firm in einer Technik, die weltweit nur wenige beherrschen. Ausgangspunkt beim Nassen Kollodiumverfahren ist eine gereinigte und polierte Glasplatte, bei Steffen Diemer in den Formaten 13 mal 18 bis 65 mal 65 cm, dazwischen gern extreme Hoch- oder Querformate, wie sie ansonsten in der Fotografie eher selten anzutreffen sind. Nun wird Schießbaumwolle in Ätheralkohol aufgelöst und das so entstandene, mit Jodkalium versetzte Kollodium – eine an Honig erinnernde Substanz, die freilich über Wochen reifen muss – auf die Platte gegossen und, indem man die Scheibe in den Händen balanciert, bis in die Ränder verteilt. In der Dunkelkammer und bei Rotlicht wird die so präparierte Platte in einem Bad aus Silbernitratlösung sensibilisiert, in eine lichtdichte Kassette gegeben und schließlich nass in der Kamera belichtet. Im Anschluss wird die exponierte und noch feuchte Platte kurz in Gallussäure entwickelt, in Natriumthiosulfat fixiert, gewässert und getrocknet. Vor allem das Belichten hat rasch zu geschehen, da mit dem Austrocknen des Kollodiums die Lichtempfindlichkeit der Schicht rapide abnimmt. Zum Schluss wird die vorgewärmte Platte vorsichtig mit einem Varnish aus Alkohol, Lavendelöl und Gum Sandarak versiegelt, um ein nachträgliches Oxidieren des Silbers zu verhindern. Ergebnis ist ein scharfzeichnendes Negativ auf Glas. Erstmals mit dem Nassplattenverfahren war Glas als verlässlicher Schichtträger ins Spiel gekommen: ein Paradigmenwechsel innerhalb der Mediengeschichte.
Schon im 19. Jahrhundert war es gängige Praxis, die meist kleinen Negative, überwiegend Bildnisse, schwarz zu hinterlegen. So wurde aus der im Prinzip endlos reproduzierbaren Platte ein positives Unikat, als handtellergroße „Ambrotypie“ gern dekorativ gerahmt. Steffen Diemer erzielt einen ähnlichen Effekt, indem er Schwarzglas als Träger verwendet. Das Material bezieht er bei Lamberts in der Oberpfalz, einem auf besondere Gläser spezialisierten Unternehmen, das bis 65 cm Breite liefern kann. Entsprechend dimensioniert sind seine Kameras, darunter ein in Bulgarien gefertigtes hölzernes „Ungetüm“ – so etwas wie der apparative Kontrapunkt zum Smartphone unserer Tage. Steffen Diemer arbeitet ausschließlich im Atelier, wo er auf ein regelrechtes Sammelsurium von Alltagsgegenständen zurückgreifen kann. Nicht um das porenreine Erfassen einer dinghaften Welt geht es ihm, sondern um ihre Spiritualität, womöglich ihre Schönheit im Banalen. Was Diemer stiftet, sind Porträts von Dingen, oft genug leblosen Objekten. Wenn man so will: Charakterbilder von äußerster Zartheit und einem ganz besonderen Schmelz.
Als Fotograf ist Steffen Diemer Autodidakt. Diemers Bilderwelt ist ein Gegenentwurf zur Aufgeregtheit des digitalen Zeitalters, ist visuelle Antithese zu einer bunt flimmernden Ikonografie, der zu entkommen kaum noch möglich ist. Aber der Rückgriff auf ein historisches Verfahren ist bei Diemer nicht handwerkliches Muskelspiel, sondern ein Mittel, Bilder der anderen Art zu generieren: „Große stille Bilder“, um einen Begriff des Medienwissenschaftlers Norbert Bolz zu zitieren. Diemers Schöpfungen sind wie der Blick durchs Schlüsselloch auf eine andere Welt, auf eine Welt, die auf frappante Weise in sich ruht. Fragt man ihn nach Einflüssen, nennt er den Tschechen Josef Sudek. Bohrt man tiefer, kommt man auf Japan, wo Diemer mehrere Jahre gelebt und gearbeitet hat. Die dort gesammelten Erfahrungen haben fraglos Spuren hinterlassen. Speziell die Bekanntschaft mit der Tuschemalerei eines Hasegawa Tôhaku blieb nicht ohne Wirkung. Reduktion, Einfachheit, die Suche nach dem Wesentlichen sind Gebote, denen sich auch Steffen Diemer in seiner Arbeit unterwirft. In digitalen Zeiten mutiert das Bild zum entmaterialisierten Datensatz. Steffen Diemers objekthafte Schöpfungen dagegen wiegen schwer. Im doppelten Sinne. Sorgfältig gerahmt und bisweilen vor ausgesuchten Textilien montiert, haben sie Gewicht. Und sie haben Tiefe, überraschen in ihrem historischen Anderssein und stimmen nachdenklich, indem sie regelmäßig Grundfragen unserer Existenz tangieren.
Auszüge zur Bilderwelt des Kamerakünstlers Steffen Diemer
– von Hans-Michael Koetzle
„Die Auffassung des Wabi Sabi und der Zen Philosophie haben meine ästhetische Wahrnehmung geprägt. Meine Erfahrungen und Einblicke, die ich auf meinen vielen Reisen sammeln durfte, fließen in meine Arbeiten ein.“
2011 verabschiedet sich Diemer von der journalistischen Fotografie und entdeckt für sich ein altes fotografisches Verfahren, das um 1851 entwickelte Kollodium-Verfahren.
„Bewusst habe ich die Technik der Ambrotypie, d.h. der Nassen Kollodium Photographie gewählt – ihre Herstellung ist kompliziert und zeitlich sehr aufwendig. Sie ermöglicht mir jedoch eine maximale Entschleunigung und damit die Konzentration auf das Wesentliche. Der Prozess ist sehr komplex, er erfordert ein hohes technisches sowie chemisches Verständnis, gepaart mit ganz speziellen handwerklichen Fähigkeiten.“
Thematisch bewegt sich Diemer auf dem Gebiet des Stilllebens. Er konzentriert sich auf einzelne von ihn gesammelte Gegenstände aus dem täglichen Leben und erforscht fotografisch ihre Aura. Er experimentiert mit Stoffen und Stofflichkeit, um in seinen komplexen Aufnahmen die Magie der Dinge aufzuspüren. 2011 verabschiedet sich Diemer von der journalistischen Fotografie und entdeckt für sich ein altes fotografisches Verfahren, das um 1851 entwickelte Kollodium Verfahren.
Steffen Diemer was born in Grünstadt, Rheinland-Pfalz, in 1966.
EXHIBITIONS
2024Art Karlsruhe, group show, Galerie Persiehl & Heine
2023“Der Stille am nächsten”, Leica Galerie Salzburg;
“werden - vergehen - wiederkehrten”, Galerie Helena Vayhinger;
“Sanftmut in der Natur eine stille Ruhe”, Dr. Robert Gerlich Museum Burghausen;
“Langsam und ganz sacht”, Städtische Galerie Iserlohn;
“Bright Days Ahead”, group show, Galerie Persiehl & Heine;
“Der gläserne Blick”, group show, Museum Villa Rot;
Munich Highlights, group show, Ira Stehmann Fine Arts;
“Natur in der zeitgenössischen Kunst”, group show, Marsano, Berlin
2022Museum Theo Kerg;
“Im Frühling die neue Blüte”, Galerie Peter Zimmermann;
“Sachlich-Unsachlich”, group show, Galerie Chr. Pixis, München;
“Diamonds are forever”, group show, Port 25;
Galerie Peter Zimmermann, group show, Kunstverein Mannheim
2021“Furui Tomodachi – bei einem alten Freund”, Galerie Albert Baumgarten, Freiburg;
Galerie André Kirbach, Düsseldorf;
Art week Luxembourg, group show, Galerie Albert Baumgarten;
Cologne Fine Art Fair, group show, Galerie Kirbach, Galerie Albrecht;
Museum Villa Rot, group show, galerie Albert Baumgarten;
“Mit Abstand”, group show, Galerie Albert Baumgarten
2020“Haruka ushiro (Weit dahinter)”, Galerie Susanne Albrecht;
“zu zweit”, Galerie Vayhinger, Singen;
Museum Rot, group show, Roter Kunstsalon, Galerie Albert Baumgarten;
Positions Berlin, group show, Galerie Susanne Albrecht;
Photo Basel, group show, Galerie Susanne Albrecht;
“Mit Abstand”, group show, Galerie Albert Baumgarten;
Art Karlsruhe, group show, Galerie Albert Baumgarten & Galerie Susanne Albrecht
2019Kunst Koch in Kooperation mit Galerie Albert Baumgarten;
Art Karlsruhe, group show, Galerie Albert Baumgarten;
Positions Berlin, group show, Galerie Susanne Albrecht;
COFA Köln, group show, Galerie Albert Baumgarten;
Art Week Luxembourg, group show, Galerie Albert Baumgarten
2018“Still Silver”, Museum Forum Alte Post, Pirmasens;
“Poesie der Photographie”, Galerie Albert Baumgarten, Freiburg;
“Werkschau”, Photokina Köln;
“Amerikas verborgene Orte”, Kurpfälzisches Museum im Mark Twain Center, Heidelberg;
“Geschichten über…”, group show, Kunstraum Gerdi Gutperle, Viernheim;
“Die verborgene Gegenwart”, group show, Galerie Maul, Ladenburg;
“Zierde ihrer Stadt”, group show, Stadtmuseum Kaiserslautern;
“Cologne Fine Art”, group show, Galerie Albert Baumgarten
2017Lange Nacht der Museen, Rahmenmuseum Düsseldorf
2016“Everything is connected”, Galerie p77a, Brühl;
“Always a little wonder”, Galerie Be Art, Heidelberg;
“Von Kopf bis Fuß”, group show, Galerie Conzen, Düsseldorf
2015“Flowers”, Galerie Kunstmaßnahmen, Heidelberg